Prof. Dr. med. Franz Joseph Freisleder – Interview zum Abschied
Zusammenfassung: Prof. Dr. med. Franz Joseph Freisleder war über 35 Jahre am kbo-Heckscher-Klinikum München in der Kinder- und Jugendpsychiatrie tätig, davon knapp 25 Jahre als Ärztlicher Direktor. Jetzt verabschiedet er sich in den Ruhestand. Ruth Alexander hat mit ihm gesprochen.
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Sie waren über 35 Jahre am kbo-Heckscher-Klinikum München in der Kinder- und Jugendpsychiatrie tätig, davon knapp 25 Jahre als Ärztlicher Direktor. Wenn Sie auf diese Zeit zurückblicken: War und ist die Pandemie die herausforderndste Krise sowohl für die Kinder und Jugendlichen als auch für Sie in Ihrer Position?
Prof. Dr. med. Franz Joseph Freisleder: (FJF): In dieser langen Zeit gab es immer mal wieder schwierige Phasen, die vor allem dadurch bedingt waren, dass unser Haus entsprechend dem Sicherstellungsauftrag rund um die Uhr für die Notfallversorgung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher in Oberbayern zuständig und gegebenenfalls zur stationären Aufnahme verpflichtet ist. Saisonale Schwankungen mit einer starken Inanspruchnahme unserer Behandlungskapazitäten sind für uns nichts Neues. Besonders herausfordernd für viele Mitarbeitende unserer multiprofessionellen Teams war in der jüngeren Vergangenheit die Flüchtlingskrise 2015 mit den vielen unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlingen, die oft schwer traumatisiert waren. Und aktuell beschäftigt uns natürlich die schon zwei Jahre andauernde Corona-Pandemie. Ihre vielfältigen Belastungen beeinträchtigen nicht nur die psychische Situation von Kindern und Jugendlichen, die dann zu uns als Patienten kommen. Sie wirken sich auch auf die Befindlichkeit des gesamten Personals aus. Aber ich bin fest überzeugt davon, dass wir auch diese zweite Krise gemeinsam meistern werden.
Wo sehen Sie – abgesehen von Corona – weitere grundlegende Einschnitte und Veränderungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in den zurückliegenden Jahrzehnten?
FJF: Die Situation der Kinder- und Jugendpsychiatrie und auch des kbo-Heckscher-Klinikums hat sich in den vergangenen 25 Jahren deutlich verändert. Noch Mitte der 1990er Jahre war die Heckscher-Klinik quasi der Alleinversorger in München und Oberbayern. Klinische Kinder- und Jugendpsychiatrie unter dem Dach der Heckscher-Klinik wurde nur an drei Standorten betrieben: in München-Schwabing, in Solln und auf der Rottmannshöhe am Starnberger See. Auch damals litten schon viele Kinder und Jugendliche unter diversen psychischen Störungen. Doch diese waren noch nicht so bekannt, wurden weniger beachtet und galten bei vielen als stigmatisierend. Und es gab in dieser Zeit auch schon Notfälle, die in der Heckscher-Klinik zum Beispiel von der Polizei vorgestellt wurden. Ich persönlich erinnere mich an Wochenenddienste – damals war man übrigens manchmal durchgängig von Samstagvormittag bis Montagabend im Haus tätig –, in denen nur ein oder vielleicht zwei Patienten ambulant vorgestellt wurden, manchmal überhaupt keiner. Aktuell sind es im gleichen Zeitraum manchmal 25 und bis zu 15 von ihnen müssen wir sofort stationär aufnehmen. Während noch vor etwa 25 Jahren 75 Prozent der Patienten in unserer Klinikzentrale elektiv, also einbestellt, aufgenommen wurden und nur 25 Prozent als Notfälle, hat sich dieses Zahlenverhältnis schon vor mehreren Jahren umgedreht: Über 80 Prozent der Aufnahmen im Haupthaus an der Deisenhofener Straße sind heute Notfälle.
Was muss sich Ihrer Einschätzung nach zum Wohl der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in unserem Land ändern, auf Seiten der Politik, aber auch gesellschaftlich?
FJF: Gerade die Corona-Pandemie hat uns wieder gezeigt, dass wir in sozialen Krisen die emotionalen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen manchmal erst zu spät erkennen und berücksichtigen. Als Kinder- und Jugendpsychiater habe ich immer wieder versucht, neben der klinischen Arbeit bei meinen Gesprächspartnern aus der Politik oder den Medien das Interesse und das Engagement für psychisch kranke Kinder und Jugendliche zu wecken und den Blick dafür zu schärfen. Es war mir aber immer besonders wichtig, dass wir bei Kindern nicht nur auf Symptome und Risiken schauen, sondern genauso auf die Ressourcen und Chancen, über die jedes Kind verfügt.
Auf was blicken Sie mit Stolz zurück? Wo konnten Sie maßgeblich etwas bewegen?
FJF: Ein ganz wichtiger Erfolg für mich war, in den 1990er Jahren daran mitzuwirken, dass die alte und viel zu beengte Heckscher-Klinik nach jahrzehntelanger Vorlaufzeit und mehreren gescheiterten Projekten 2003 endlich aus dem Gründungsgebäude in Schwabing in den Neubau nach Obergiesing umziehen konnte. Ich bin davon überzeugt, dass unsere Klinik, die sich heute neben anderen kinder- und jugendpsychiatrischen Anbietern behaupten muss, ohne diesen Modernisierungsschritt keine Zukunft gehabt hätte. Und natürlich war es schön, dass in meiner Dienstzeit eine Reihe neuer Standorte eröffnet werden konnten: in Rosenheim, Wolfratshausen, Waldkraiburg, Ingolstadt, Landsberg, Wasserburg und zuletzt in Haar. Besonders gefreut hat es mich auch, dass während meiner Zeit als Ärztlicher Direktor am Haus mehrere 100 Ärztinnen und Ärzte erfolgreich ihre Weiterbildung zum Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie absolviert haben. Als Kaderschmiede für Kinder- und Jugendpsychiatrie konnte das kbo-Heckscher-Klinikum aber nur funktionieren, weil ich ständig von meinen großartigen Kolleginnen und Kollegen begleitet, unterstützt und entlastet wurde. Am schönsten aber war und ist es für mich, wenn ich gelegentlich, manchmal ganz unverhofft einem ehemaligen Patienten begegne und dann von ihm erfahre, dass er seine frühere psychiatrische Problematik auch dank unserer Hilfe überwunden hat und es ihm gut geht. Dann kommt vielleicht wirklich ein bisschen Stolz auf.
Bereits in den 1990er Jahren haben Sie die „Kinder- und jugendpsychiatrischen Kolloquien der Heckscher-Klinik“ initiiert, seit 2007 kooperieren Sie in den „Münchner Kinder- und Jugendpsychiatrischen Kolloquien“ mit der LMU und Prof. Schulte-Körne. 2021 ist das Format pandemiebedingt online gegangen. Ihr persönliches Fazit?
Die gute Zusammenarbeit mit der LMU, deren Akademisches Lehrkrankenhaus die Heckscher-Klinik seit 2000 ist, lag mir schon immer am Herzen. So konnten wir uns an einigen bemerkenswerten wissenschaftlichen Projekten beteiligten und auch PJ-Studenten bei uns ausbilden. Die in Kooperation gemeinsam mit Prof. Gerd Schulte-Körne gegründeten „Münchner kinder- und jugendpsychiatrischen Kolloquien“ mit inzwischen weit über 100 gelungenen Veranstaltungen zählen aktuell zu den beliebtesten Fortbildungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie deutschlandweit. Während der Pandemie ist nur eine Teilnahme via Internet möglich. Bei dieser Gelegenheit zählen wir manchmal bis zu 800 Teilnehmer, die sich sogar aus anderen Ländern zuschalten. Diese hohe Resonanz spricht zweifellos für ein erfolgreiches Format, das sich hoffentlich auch künftig durchsetzen wird, vielleicht ja in hybrider Form.
Was werden Sie Ihrer Nachfolgerin Priv.-Doz. Dr. Katharina Bühren mit auf dem Weg geben?
Mit Dr. Katharina Bühren wurde eine hervorragende Nachfolgerin für mich gefunden, die ihre an der Aachener Universitätsklinik erworbene Fachkompetenz bereits mit wichtigen Erfahrungen verbinden kann, die sie in den vergangenen fünf Jahren am kbo-Heckscher-Klinikum gesammelt hat. Besonders freue ich mich auch darüber, dass unsere Klinik nach siebzig Jahren wieder einmal von einer Frau ärztlich geleitet wird.* In dieser Klinik, in der ihrem Auftrag entsprechend die Devise „Erst die Pflicht und dann die Kür“ gilt, wünsche ich ihr für die nächsten 25 Jahre viel Glück, Mut und vor allem Erfolg beim klugen Ausbalancieren von Bewährtem und Neuem.
Mit welchen Gedanken verlassen Sie Ihre „Heckscher“?
FJF: Ich verlasse das kbo-Heckscher-Klinikum vor allem mit einem Gefühl von großer Dankbarkeit. Mein Wunsch, später einmal in der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu arbeiten, ist schon als Gymnasiast nach einem Klinikpraktikum in den Sommerferien 1974 entstanden. Dass ich eines Tages als Ärztlicher Direktor in der Heckscher-Klinik landen werde, hätte ich damals nicht zu träumen gewagt. In dieser Klinik bin ich dann Menschen aus vielen Berufsgruppen begegnet, deren Engagement und Begeisterung für die Arbeit mich immer wieder mitgerissen haben. Und ich bin auf Kinder und Jugendliche getroffen, deren Schicksale mich nach wie vor sehr bewegen.
Dankbar bin ich auch für die beständige Kooperation mit meinen Leitungskollegen aus der Erwachsenenpsychiatrie und der Sozialpädiatrie, mit denen über die Jahre unter dem Dach von kbo neben einem stabilen Arbeitsnetzwerk auch Freundschaften entstanden sind. Und nicht zuletzt gilt mein Dank den Vorständen von kbo und den engagierten Bezirksrätinnen und Bezirksräten von Oberbayern, die mir ihr Vertrauen geschenkt und die Entwicklung unserer Kinder- und Jugendpsychiatrie mitverfolgt und gefördert haben.
Jetzt freue ich mich auf einen Lebensabschnitt, in dem neben der Kinder- und Jugendpsychiatrie auch Platz und Zeit für Neues sein wird.
Herr Prof. Freisleder, vielen Dank für das Gespräch und alles Gute für Sie!
*Anmerkung: Dr. med. Maria Weber war von 1938 bis 1954 kommissarische Leiterin der Klinik.