Das „Recovery-Konzept“ im Pflege- und Erziehungsdienst
Zusammenfassung: „Recovery“ bedeutet übersetzt „Wiedergewinnung“, „Erholung“ oder „Besserung“. Im Bereich der Psychiatrie steht das sogenannte „Recovery-Konzept“ für eine alternative Art der psychiatrischen Behandlung, bei der ein gesundheitsfördernder, ganzheitlicher und positiver Blick auf psychische Erkrankungen im Mittelpunkt steht. Christian Wimmer, Stationsleiter am kbo-Heckscher-Klinikum Wasserburg, veranschaulicht an einigen Beispielen, wie das Konzept in den Klinikalltag integriert wird.
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Entwickelt wurde das Recovery-Konzept in den 1990er Jahren von psychiatrie-erfahrenen Vorreitern in den USA, die sich nicht damit abfinden wollten, dass Menschen mit einer psychischen Erkrankung als „unheilbar krank“ oder „austherapiert“ abgestempelt wurden. Meist wird das Konzept daher als eine Haltung, ein Prozess und eine Art zu leben und zu pflegen verstanden, der Betroffenen trotz weiter bestehender psychischer Probleme ein zufriedenes und aktives Leben ermöglicht.
Christian Wimmer, Fachpfleger für Psychiatrie nach DKG und Stationsleiter der Adoleszenten-Station des kbo-Heckscher-Klinikums Wasserburg, hegte schon lange den Wunsch, recovery-orientierte Versorgung am eigenen Arbeitsplatz zu etablieren. Im Herbst 2021 nahm er sich die Zeit, diesen Wunsch zu einem konkreten Plan werden zu lassen. Er stellte sich die Frage, wie man das Konzept mit Modellen wie dem Gezeiten-Modell* von Prof. Phil Barker in den Klinikalltag integrieren könne. „Denn ich bin davon überzeugt, dass dieses Modell den Genesungsprozess fördert und dabei helfen kann, die Lebensqualität der Patienten zu verbessern“, so Wimmer motiviert.
*Das Gezeiten-Modell kurz erklärt:
Entwickelt von Phil Barker und Poppy Buchanan-Barker, liegt dem Gezeiten-Modell eine recovery-orientierte Dienstleistung im psychiatrischen Bereich zugrunde. Im Fokus stehen hier nicht Diagnosen und Krankheitsbilder, sondern Personen mit psychischen Problemen, die als Expertinnen und Experten ihrer selbst verstanden werden. Auf der Grundlage dieses Modells können Fachpersonen ihre Angebote personenzentriert ausrichten und umsetzen, indem sie den Geschichten ihrer Patientinnen und Patienten zuhören, auf ihre Erfahrungen vertrauen und mit ihnen nach Wegen psychischer Unterstützung suchen.
Anhand zweier interner Fortbildungen setzte Christian Wimmer den Startpunkt für die Einführung des Recovery-Konzepts und gab sein erworbenes Wissen an das Team des Pflege- und Erziehungsdiensts weiter. Es entstand eine lebhafte Diskussion, die in zwei Richtungen ging: „Einerseits konnten wir bei einigen Angeboten auf Station erkennen, dass sie die Genesungsfähigkeit bei unseren Patientinnen und Patienten fördern. Die Angebote machten wir auf Basis unserer Erfahrungen, unseres Wissens und den positiven Reaktionen der Patienten, was uns zusätzlich motivierte. Auf der anderen Seite überlegten wir, wie wir unser Angebot im Sinne von ‚Recovery‘ erweitern können.“
Zunächst wurden Projektgruppen in der Adoleszenten-Station gegründet, an denen sich die Mitarbeitenden aus dem Pflege- und Erziehungsdienst federführend und mit großem Engagement beteiligten. Für jede dieser Projektgruppen braucht es einen Verantwortlichen. Das müssen Personen sein, die Erfahrung aus dem jeweiligen Bereich mitbringen und ihr persönliches Interesse und ihre Kompetenz in das Projekt fließen lassen. Sie sind dafür zuständig, das entsprechende Projekt im Auge zu behalten, es zu pflegen und am Laufen zu halten.
Projekte im Rahmen des Recovery-Konzepts
Die positive Wirkung von Sport und Bewegung auf die Psyche ist bekannt. Angelika Perzlmeier, selbst begeisterte Sportlerin mit diversen absolvierten Trainerausbildungen, leitet die Laufgruppe im Rahmen des Recovery-Programms. An diesem Projekt lässt sich das Prinzip gut veranschaulichen: Nur wer selbst Freude an der Bewegung hat, kann den jugendlichen Patientinnen und Patienten diese auch gut und authentisch vermitteln. Dabei geht es weniger um den Sport an sich als eher um die positive Wirkung körperlicher Aktivität generell. „Vor dem Start hält sich die Vorfreude bei den Jugendlichen oft deutlich in Grenzen. Doch wenn sie dann auf Station zurückkommen, sieht man in den Gesichtern die Zufriedenheit über den ersten Sieg an diesem Tag“, berichtet Christian Wimmer.
Auch die Arbeit in und mit der Natur tut der Seele gut und ist Mittelpunkt des Gartenprojekts, für das Susan Hohenadler verantwortlich ist. Die passionierte Gärtnerin leitet die Gruppe und hat das gesamte Gartenjahr im Blick. Eine zeitlich und organisatorisch anspruchsvolle Aufgabe. Das Gartenprojekt bedient gleich mehrere Wirkdimensionen des Recovery-Konzepts: Hier spielt sowohl die kreative Gemeinschaft als auch die spirituelle Dimension eine Rolle. Denn die Arbeit im Garten und an den Beeten „erdet“ im wortwörtlichen Sinn. Sie schult und fördert Eigenschaften wie Geduld und Ruhe und die Projektleiterin beobachtet immer wieder, wie die Patientinnen und Patienten tatsächlich ruhiger und entspannter werden. Auch biografische Erinnerungen und Gespräche entwickeln sich hier häufig: „Meine Oma hatte immer Tomatenpflanzen …“
Kreativität im etwas anderen Sinne wird in der Gruppe von Daniel Preßler gefördert. Vor seiner Ausbildung zum Heilerziehungspfleger war er Maler und leitet nun die Jugendlichen mit seiner handwerklichen Erfahrung professionell an der Graffitiwand an. Hier können sich die Patientinnen und Patienten kreativ austoben, haben Spaß und werden von ihrem Krankheitsgeschehen abgelenkt. Das Projekt hat zwar keinen kunsttherapeutischen Anspruch, aber etwas Pädagogik muss doch sein. So wird hier neben dem kreativen Part beispielsweise auch der verantwortungsbewusste Umgang mit Schutzkleidung und Atemschutzmasken vermittelt.
Die Motivation zur Verwirklichung des Recovery-Konzepts kommt von den Mitarbeitenden selbst
„Das besondere Engagement der drei Kolleginnen und Kollegen kann ich als Stationsleiter nur immer wieder loben,“ sagt Christian Wimmer stolz. Die Motivation käme überwiegend von den Mitarbeitenden selbst. „Ich mache das auch, damit mir die Arbeit mehr Freude bereitet,“ erzählt beispielsweise die Laufgruppen-Leiterin Angelika Perzlmeier. Diese Motivation nutzt und fördert Wimmer, indem er Möglichkeiten für die Mitarbeitenden schafft, sich kreativ einzubringen.
Um die Projektgruppen am Leben zu erhalten, braucht es, wie der Stationsleiter immer wieder betont, Menschen, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen: „Diese Verantwortung sollte idealerweise auf mehrere Schultern verteilt werden. Daran arbeiten wir. Für die Gartengruppe und die Laufgruppe ist das bereits gut gelungen. Letztere findet zwei Mal wöchentlich statt, gleich nach dem Aufstehen.“
Christian Wimmers Dankbarkeit und Freude über das tolle Engagement aller Beteiligten ist groß: „Mir bleibt nur, dem gesamten Team des Pflege- und Erziehungsdienstes ganz herzlich zu danken. Selbstverständlich auch denjenigen, die sich in anderen Gruppen einbringen. Nicht zu vergessen die Kolleginnen und Kollegen, die den Stationsalltag meistern, sich um die Routine-Aufgaben kümmern, sich flexibel zeigen und so Raum für diese Projekte schaffen.“
Lena Heyelmann, Direktorin für Pflege und Erziehung am kbo-Heckscher-Klinikum ergänzt:
„Die Einbindung von Genesungsbegleiterinnen und -begleitern als „Peers“ ist aus dem Recovery-Konzepten nicht wegzudenken. Sie sind es, die am besten Hoffnung und Zuversicht auf ein produktives und selbstbestimmtes Leben in einer Gesellschaft mit psychiatrischer Krisenerfahrung vermitteln können. Kann ein Erwachsener „Peer“ für einen Heranwachsenden sein? Für das kbo-Heckscher-Klinikum haben wir uns jüngst entschlossen, die Erfahrungen von (wenigen Schweizer) Kinder- und Jugendpsychiatrien rund um den Einbezug von Genesungsbegleiterinnen und -begleitern weiter interessiert zu verfolgen und dann gegebenenfalls zu einem späteren Zeitpunkt die Gleichaltrigkeit bei dem Peer-Begriff geringer zu gewichten. Dass sich das PED-Team auch ohne Genesungsbegleiter so strukturiert der Förderung von Recovery widmet, führt zu einer Steigerung bei der Behandlungsqualität und der Arbeitszufriedenheit – mehr können wir von einem Konzept kaum erwarten. Danke für das Engagement!“