„Krisen wie jetzt Corona sind wichtig im Leben"
Die Weihnachtsfeiertage stellen Familien im Corona-Jahr vor besondere Herausforderungen. Sie können aber auch eine Chance sein, meint Dr. Nicolay Marstrander, Chefarzt des kbo-Isar-Amper-Klinikums Fürstenfeldbruck.
Die Erwartungen an Weihnachten sind traditionell hoch. Wie wirkt sich Corona darauf aus?
Weihnachten ist das Fest der Familie und psychologisch gesehen nutzen wir das, um uns zu stabilisieren. Wenn wir in großer Runde zusammenkommen, soll uns das stützen und unser Selbstwertgefühl stärken. Aber Corona stellt das bisherige Konzept in Frage. Wir müssen die Situation neu denken.
Was heißt das?
Es findet eine Art Bereinigung statt – und das kann durchaus positiv sein: Endlich kann ich nur mit meiner engsten Familie feiern und muss nicht diese Überfrachtung hinnehmen. Während ich ansonsten immer die Schwiegermutter für drei Tage einlade, kann ich mich nun mit Hilfe von außen davon lösen.
Könnten neue Rituale entstehen, die auch ohne Corona halten?
Es kann durchaus sein, dass man im kommenden Jahr sagt, nur mit der Kernfamilie beisammen zu sein, das war doch schön, das machen wir wieder. Krisen, wie jetzt Corona, sind wichtig im Leben. Man stellt nämlich die Frage: Was will ich wirklich?
Es könnte aber auch sein, dass ich den weihnachtlichen Großfamilienstress vermisse.
Genau, es tritt ein Klärungsprozess ein. Wenn meine vermeintlich ungeliebte Verwandtschaft dieses Jahr nicht kommt, werde ich sehen, ob sie mir vielleicht nicht doch fehlt, auch wenn sie mir sonst auf die Nerven geht.
Was ist mit den negativen Corona-Folgen?
Ich möchte auf eine Gruppe besonders hinweisen: die psychisch Erkrankten nämlich, die gerade jetzt die vielen kleinen Hilfsangebote wegen der Pandemie verlieren und für die Weihnachten immer eine riesige Herausforderung ist.
Und die Familien?
Auch hier gibt es Menschen, die sich durch die Beschränkungen zutiefst beeinträchtigt fühlen in ihrem Recht auf familiären Zusammenhalt. Es leiden natürlich vor allem Einsame, Kranke, Alte, aber auch Menschen, die beruflich stark eingebunden sind und deswegen auch sonst ihre Familien selten sehen.
Die Familien stehen damit vor einem sehr grundsätzlichen Problem: Gefährde ich jemanden lieber, als dass ich ihn einsam sitzen lasse?
Ich ermuntere in solchen Fällen dazu, die Oma, die Schwiegermutter, den Großonkel direkt zu fragen, die können das Risiko für sich selbst abwägen. Lasst doch die Älteren entscheiden, die haben doch viel mehr Lebenserfahrung. Die mittlere Generation glaubt immer, das alles auf die eigene Kappe nehmen zu müssen. Das stresst natürlich.
Viele Rituale wie der Weihnachtszirkus oder der Konzertbesuch fallen dieses Jahr aus. Was also tun gegen den Wohnzimmerkoller?
Es geht darum, Zeit gemeinsam zu gestalten, damit nicht am Ende jeder vor seinem Handy sitzt oder gar Streit ausbricht. Vielleicht kann man gerade dieses Jahr Dinge schenken, die dazu animieren, zusammen etwas zu machen: basteln, ein Lego-Set aufbauen, ein Brettspiel. Gerade Eltern mit Kindern sollten die Feiertage vielleicht ein bisschen gezielter vorbereiten: Zutaten fürs Plätzchenbacken besorgen oder gemeinsames Kochen einplanen. Und den Weihnachtsbaum können ja dieses Jahr alle gemeinsam schmücken.