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Folgen des zweiten Corona-Lockdowns

PD Dr. Florian Seemüller, Chefarzt der kbo-Lech-Mangfall-Kliniken Garmisch-Partenkirchen und Peißenberg, spricht im Interview über die Folgen des zweiten Corona-Lockdowns und gibt Tipps, wie man am besten mit der Krise umgeht. 

Herr Dr. Seemüller, wen trifft der aktuelle, zweite Corona-Lockdown besonders hart?

Dr. Seemüller: Von den Maßnahmen sind wir alle gleichermaßen betroffen, da spielen weder die Schichtzugehörigkeit noch das Alter oder andere Faktoren eine Rolle. Die Kinder vermissen die Geburtstagsfeiern, wir „Großen“ den Konzertbesuch und wirtschaftlich sind derzeit vor allem die Gastronomen betroffen und die Nöte besonders groß. 

Die Kontaktbeschränkungen sind für viele sehr schlimm …

Dr. Seemüller: Vor allem diejenigen, die ohnehin wenig bis gar keine Kontakte haben, sei es wegen seelischer oder körperlicher Einschränkungen, leiden unter den Kontaktbeschränkungen, denn nun fallen auch diese wenigen noch weg. Es gibt aber auch einige, die hier keinen hohen Bedarf haben und mit der Situation ganz gut zurechtkommen.

Wir wirken sich die Einschränkungen auf Ihren Klinikalltag aus?

Dr. Seemüller: Wir müssen leider restriktiver mit den Besuchern umgehen, derzeit besteht ein allgemeines Besuchsverbot für unsere Patienten, für unsere Mitarbeiter heißt es, dass sie eventuell, je nach Personalsituation, ihren Urlaub verschieben müssen.

Das ruft doch sicher großen Unmut hervor.

Dr. Seemüller: Die Mehrheit hat für diese Situation vollstes Verständnis, ich persönlich musste mit Patienten bislang jedenfalls in dieser Hinsicht keine einzige Diskussion führen. Natürlich gibt es Einzelne, die sich krankheitsbedingt schwer tun, die Hygienemaßnahmen zu verstehen.

Warum trifft dieser zweite Lockdown viele Menschen härter als der erste?

Dr. Seemüller: Weil sie, wir alle, gehofft hatten, dass mit dem ersten Lockdown die Probleme bewältigt sein würden. Doch nun stellt sich heraus, dass es sich doch um ein längerfristiges Geschehen handelt und keiner weiß, wie lange es noch dauern wird. Einer gewissen Gewöhnungshaltung steht also ein Verdruss, ein Genervt-Sein darüber, dass nun alles wieder von vorn beginnt, gegenüber.

Inwiefern spüren Sie persönlich die Restriktionen?

Dr. Seemüller: Auch meine Kinder, achtjährige Zwillinge, dürfen auf keinen Kindergeburtstag und ich selbst würde gern im Winter wieder Skifahren. Die Situation, das muss man ganz klar sagen, ist für alle nicht schön. Aber die Maßnahmen sind absolut notwendig. Es handelt sich bei dem Coronavirus um einen weitaus gefährlicheren als den Grippevirus. Ob der derzeitige Lockdown light effektiv genug ist und ausreicht, um die Infektionszahlen zu senken, zeigt sich erst etwa Mitte November.

Wer die Maßnahmen als notwendig versteht, akzeptiert sie auch eher…

Dr. Seemüller: Genau. Und es sind ja von dem Virus nicht nur die älteren Menschen bedroht, sondern auch unter den Jüngeren befinden sich viele mit Risikoerkrankungen. Jeder ist dazu aufgerufen dazu beizutragen, das Risiko einer Ansteckung zu minimieren und somit andere zu schützen, da ist jeder Einzelne gefordert.

Wie kann man den Menschen Mut machen?

Dr. Seemüller: Der aktuelle Lockdown ist ja nicht ganz so strikt und mit mehr Augenmaß beschlossen worden als der erste. Aus der Perspektive der seelischen Gesundheit sicher ein guter Kompromiss. Obwohl die Zahlen der Infizierten höher sind als im Frühjahr, sind die Maßnahmen milder, die Schulen bleiben offen, es dürfen sich Mitglieder zweier Haushalte treffen. Das lässt einen breiteren Spielraum, der im Frühjahr bei der ersten Welle nicht gegeben war und das sollte auch Mut machen. Es gibt ja noch Kontaktmöglichkeiten und man kann sich somit vor allem auch um die Älteren kümmern.

Kommen denn derzeit mehr Patienten in Ihre Klinik, um sich behandeln zu lassen?

Dr. Seemüller: Ja, es gibt tatsächlich derzeit eine höhere Inanspruchnahme, die aber sicher auch saisonal bedingt ist.

Sie sprechen einen wichtigen Gesichtspunkt an: Nun kommt die kalte, dunkle Jahreszeit auf uns zu, die für viele auch ohne Corona-Einschränkungen schon nicht leicht ist.

Dr. Seemüller: Das erschwert die Situation für viele in der Tat, umso wichtiger ist es, in dieser Zeit besonders gut für sich zu sorgen. Das heißt, sich Gutes zu tun, wo es nur geht, ob es ein langer Waldspaziergang ist oder ein gemeinsamer Spieleabend mit der Familie. Man sollte sich die Dinge gehäuft gönnen, die jetzt noch möglich sind. 

Man sagt ja, dass in jeder Krise auch eine Chance liegt, gilt das auch für die jetzige Coronakrise?

Dr. Seemüller: Diese aufgezwungene Auszeit kann ein guter Moment sein, um Dinge anzupacken, die schon lange liegengeblieben und aufgeschoben worden sind: das kann ein neues Hobby sein, das Erlernen einer Fremdsprache oder das Streichen der eigenen vier Wände.

Worauf sollte man besonders achtgeben?

Dr. Seemüller: All das aufrechtzuerhalten oder wertzuschätzen, was uns generell gesund hält. Noch wichtiger als Bewegung und gute, ausgewogene Ernährung ist die Qualität unserer Beziehungen. Beziehungen kann man auch während des Lockdowns pflegen. Man kann diesen dazu nutzen, um sich zu besinnen und die einem nahestehenden Menschen bewusster wertzuschätzen als es im normalen, vielleicht oft hektischen Alltag geschieht. Jetzt sind Ablenkungen nicht mehr uneingeschränkt möglich und man kann innerlich zur Ruhe kommen, sich mehr um die Lieben kümmern und Dinge für sie tun, die sonst vielleicht leicht vergessen werden.

Wie wichtig ist eine geregelte Tagesstruktur?

Dr. Seemüller: Enorm wichtig!  Die so genannten „Zeitgeber“ halten die innere Uhr intakt, also Aufstehen, Arbeiten, soziale Kontakte pflegen, essen, geistig und körperlich aktiv sein, Zubettgehen – diese Aktivitäten sollten über einen jeden Tag verteilt mehr oder weniger gleich- und regelmäßig ablaufen. Das mag monoton klingen, tut aber Seele und Körper erwiesenermaßen sehr gut und wirkt sich fördernd auf den eigenen Bio-Rhythmus aus. So bleibt man resilient, also widerstandfähig gegenüber widrigen Bedingungen.

Viele sind derzeit im Homeoffice und einstmals vorgegebene Strukturen sind gerade nicht mehr da.

Dr. Seemüller: Tatsächlich liegt hier eine gewisse Gefahr und man  sollte, wenn man von daheim aus arbeitet, in jedem Fall feste Arbeits- und Pausenzeiten einhalten und soweit möglich den Arbeitsplatz zeitlich und räumlich vom Privaten trennen.

Worauf sollten die Menschen noch achten?

Dr. Seemüller: Die Unsicherheit ist derzeit sehr groß und ständig Nachrichten zu schauen und sich über die verschiedensten Kanäle ungefiltert mit Informationen zuzuschütten, kann zusätzlich verunsichern. Man sollte Abstand zu dem Thema gewinnen, indem man die Informationskanäle bewusst auswählt und vielleicht nur einmal am Tag die aktuellen Daten und Zahlen abfragt.

Und wenn einem mal einfach nur zum Jammern zumute ist?

Dr. Seemüller: Dann sollte man auch diesen Gefühlen Raum geben. Es ist nun mal keine leichte Zeit und sie fordert von uns allen Durchhaltevermögen und Optimismus, der zuweilen verloren gehen kann. Jeder ist mal schwach und darf es auch sein. Das ist ganz normal und absolut nachvollziehbar, auch Ängste können auftauchen. Wichtig ist, darüber mit seinen Angehörigen und Freunden zu sprechen und sich dann aber auch gegenseitig wieder zu stützen und aufzubauen.

Wann sollte man sich professionelle Hilfe beispielsweise ein Ihrer Klinik suchen?

Dr. Seemüller: Wenn die Sorgen, die Ängste und eventuell auch der Alkohol- oder anderer Drogenkonsum einem entgleiten, wenn lebensmüde Gedanken auftauchen, man zunehmend die Kontrolle über sich und sein Verhalten verliert und sich über Wochen hinweg eine Aussichtslosigkeit einstellt. Dann sollte man zunächst mit seinem Hausarzt Kontakt aufnehmen um abzuklären, ob ein seelisches Problem behandelt werden muss. Im akuten Krisenfall kann man sich auch an unsere Institutsambulanz (Telefon: 08821-77-6450) wenden oder an den psychiatrischen Krisendienst (Telefon: 0800 / 655 3000).

Sie bieten in den kbo-Lech-Mangfall-Kliniken ja auch Video-Sprechstunden an.

Dr. Seemüller: Ja, das wird sehr gut angenommen und unsere Patienten hier in der Klinik haben über Video-Telefonie die Möglichkeit, mit ihren Angehörigen in Kontakt zu bleiben, die Technik ist hier ein großer Segen. 

Herr Dr. Seemüller, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Von Barbara Falkenberg 17. November 2020