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Psychotherapie

Resilienz in Zeiten von Corona

Die Psychologin und Resilienz-Trainerin Dr. Anna Beraldi spricht im Interview zum Umgang mit der Corona-Krise. 

Die Corona-Krise ist für viele Menschen eine emotionale Ausnahmesituation, die im Extremfall zu Angst- und Panikattacken führen kann. Dr. Anna Beraldi, leitende Psychologin an der kbo-Lech-Mangfall-Klinik Garmisch-Partenkirchen, hat sich auf Stressbewältigung spezialisiert. In Resilienz-Trainings übt sie mit ihren Patientinnen und Patienten die Fähigkeit, mit Belastungen so umzugehen, dass die Psyche Stresssituationen so unbeschadet wie möglich übersteht. Im Interview erklärt Dr. Beraldi, wie man seine Seele in der Corona-Krise stärken kann und welche Rolle Resilienz dabei spielt.

Frau Dr. Beraldi, was macht die Corona-Krise mit vielen Menschen psychisch? 

Dr. Anna Beraldi (AB): Wie jede Krise, löst auch die Corona-Krise eine psychische Bewältigungs- und Anpassungsreaktion aus. Das heißt, die davon betroffenen Menschen müssen erstmal lernen, mit dieser neuen Situation umzugehen. Und das erfordert Zeit und die Fähigkeit, sich anzupassen. Eine der häufigsten Reaktionen der Psyche ist Angst und Unsicherheit. Das ist im Fall des Coronavirus völlig normal, da Situationen, die als bedrohlich empfunden werden oder es sind, Angst und Unsicherheit auslösen.

Als Resilienz-Trainerin schulen Sie Menschen, mit Belastungen umzugehen. Wie kann man sich in der aktuellen Krise seelisch schützen?

AB: Zum einen gilt es zu erkennen, dass die Reaktion der Psyche bereits ein Schutzmechanismus ist. Solange ich trotz der Angst und Unsicherheit funktionsfähig bleibe, meinen beruflichen und privaten Pflichten nachgehen kann, solange muss ich dagegen nicht angehen. Problematisch wird es, wenn daraus ungesunde Befindlichkeiten oder Verhaltensweisen entstehen – etwa, wenn man Schlafstörungen bekommt, Ängste zunehmen oder Aggressionen auftreten. Was wir auf subtile Weise aktuell erfahren, ist zum einen, wie verletzlich der Mensch ist und wie brüchig unsere Autonomie, Selbstbestimmung und Freiheit sind. Beides fühlt sich nicht gut an und kann eine Stressreaktion auslösen. Problematisch wird es, wenn der Krisenmodus die gesunde Stressdosis übersteigt und länger anhält, denn darauf ist unser Stresssystem nicht ausgerichtet. Deshalb gilt es, den Stresslevel im Bereich des gesunden, normalen Ausmaßes zu halten.

Wie kann man den Stress in dieser Krise reduzieren?

AB: Wissen ist meistens eine gute Waffe gegen Angst und Desorientierung. Sich auszutauschen, finden die meisten Menschen auch hilfreich. Wichtig ist, dass man sich nicht gegenseitig hochschaukelt. Auch Sport wirkt bekanntlich stressreduzierend, da dadurch Stresshormone abgebaut werden. Eine gewisse Normalität aufrechtzuerhalten, wirkt sich ebenfalls stressreduzierend aus. Also zu hinterfragen, welche Gewohnheiten muss ich wirklich ändern und welche kann ich beibehalten. Das ist vor allem zu Hause im Miteinander mit Kindern sehr wichtig. Kinder brauchen so viel Routine wie möglich. Auch wenn man momentan den Eindruck hat, dass alles Kopf steht, kann man doch schnell erkennen, dass viele familiäre Routinen wie gemeinsame Essenszeiten nicht davon betroffen sind und weiterhin unbedingt gepflegt werden sollten.

Was genau bedeutet Resilienz?

AB: Viele verstehen darunter eine Art Zauberkraft, die man von Geburt an mitbringt oder eben auch nicht. Das ist aber so nicht richtig. Jeder kann lernen, widerstandsfähiger zu werden. Resilienz, also die psychische Widerstandskraft, ist die Fähigkeit, Krisen und Belastungen zu bewältigen und dabei die psychische Gesundheit aufrechtzuerhalten oder rasch wiederherzustellen oder gar gestärkt aus dieser Krise hervorzugehen. Das Stehaufmännchen ist eine gute Metapher dafür.

Welche Faktoren sind dabei wichtig?

AB: Man geht von sieben Resilienz-Faktoren aus, die dazu führen, dass man mit Herausforderungen besser zurechtkommt. Dazu gehören: optimistisch sein, Situationen akzeptieren, Lösungen finden, die Opferrolle verlassen, Verantwortung übernehmen, Kontakte knüpfen und die Zukunft planen. Man muss aber nicht über alle Resilienz-Faktoren verfügen – das geht auch gar nicht.

Kann man diese Resilienz lernen?

AB: Mit geeignetem Training kann sich jeder diese Fähigkeit aneignen. Wichtig ist, dass man bei kleineren, nicht so gravierenden Anforderungen übt, wenn die jeweilige Stresssituation noch gut handhabbar und nicht existentiell ist, also beispielweise bei kleineren Konflikten mit dem Arbeitgeber oder mit Kollegen am Arbeitsplatz oder bei belastenden familiären Situationen. Dann ist man auch auf größere Herausforderungen, wie etwa die Corona-Krise, besser vorbereitet. Auch ist es wichtig, bei sich selbst zu erkennen, welche Faktoren bisher dazu beigetragen haben, dass man mit Krisen und Belastungen erfolgreich umgehen konnte. Und diese Faktoren muss man dann bewusst einsetzen und überlegen, um welche Faktoren man sein Repertoire erweitern sollte.

Gibt es Grenzen des Lernbaren?

AB: Ja, leider ist nicht alles erlernbar. Resilient zu handeln, bedeutet auch zu akzeptieren, dass man nicht alles kontrollieren und nicht alles im Griff haben kann. Die menschliche Verletzlichkeit zu akzeptieren, ist ein wichtiges Thema, das in unserer leistungsorientierten Gesellschaft verdrängt wird. Ich glaube, dass Menschen mit Krankheiten und Tod früher besser umgehen konnten, da diese eher als Teil der menschlichen Existenz angenommen wurden als heute.

Wie übt man situationsbedingte Lösungen für die Corona-Krise?

AB: Situationsbedingte Lösungen erfordern, dass man die Situation kennt. Und das ist in der aktuellen Krise und zum aktuellen Zeitpunkt gerade ein Problem. Einerseits weil Vorerfahrungen und Vorinformationen fehlen, und anderseits, da man immer wieder mit neuen und sich widersprechenden Informationen konfrontiert wird. Anstatt problemorientiert, sollte man die Situation lösungsorientiert – also mit einem Resilienz-Faktor – angehen. Allerdings schränken uns die aktuellen lösungsorientierten Ansätze wie Ausgangssperren, Schulschließungen und Schließungen von Geschäften in unserer Autonomie stark ein. Wir erleben folglich Verlust von Kontrolle und Selbstbestimmung, was der menschlichen Psyche nicht gut bekommt.

Was heißt das konkret für die Angst vor dem Coronavirus? 

AB: Wenn man den Feind kennt, kann man eine passende Strategie entwickeln. Das trifft nicht nur auf den Krieg zu, sondern auch auf Ängste und Stress zu. Die Schwierigkeit ist aktuell, dass wir den Feind nicht sehen und ihn nicht kennen. Wichtig ist, um die Angst vor einer Ansteckung in Zaum zu halten, dass wir uns an Informationsquellen halten, die kompetent und zuverlässig sind, dass wir sachlich und rational bleiben, also unsere Vernunft bestimmen lassen und nicht unsere Gefühle. Da Gefühle handlungssteuernd sind, sollten wir unsere Gefühle wahrnehmen und hinterfragen, ob sie angemessen sind. Als Italienerin verfolge ich die italienischen Medien und wie in Italien die Menschen mit der Situation umgehen. Und es ist spannend zu sehen, in welcher Form sich hier die Resilienz-Faktoren wiederfinden. Es kursieren beispielsweise Videos in den Sozialen Medien, die eindeutig über Humor eine stress- und angstreduzierende Wirkung artikulieren. Plakate mit der Botschaft „ce la faremo“ (wir schaffen das) können auch den beiden Resilienz-Faktoren – Optimismus und Opferrolle verlassen – zugeordnet werden.

Welche Rolle spielen soziale Kontakte für Resilienz?

AB: Soziale Kontakte sind ein wichtiger Schutzfaktor. Deshalb ist es sehr hilfreich, sich nicht abzukapseln und in der eigenen Suppe zu schwimmen, sondern aktiv soziale Unterstützung durch Beziehungen zu suchen. Wenn man Beziehungen pflegt, gibt das viel Kraft und Selbstvertrauen. Man fühlt sich nicht allein. Das Bedürfnis von Gemeinschaft und Zugehörigkeit wird erfüllt, und das tut der Psyche gut. Es geht aber auch um faktische und materielle Unterstützung, etwa indem man sich professionelle Hilfe holt, wenn man den Eindruck hat, es allein nicht mehr zu schaffen.

Aber gerade auf soziale Kontakte soll man jetzt verzichten.

AB: Ja, aber nur für eine begrenzte Zeit und für ein höheres Gut. Einschränkungen für ein höheres Gut sind erträglicher als willkürliche Einschränkungen, da sie einen tieferen Sinn haben. Zum Glück haben wir heute noch andere Möglichkeiten, uns verbunden zu fühlen – etwa über die Sozialen Medien, über Telefon und Skype, aber auch über das Gebet. Hier ist die virtuelle Welt eine große Hilfe, aber sicher kein Ersatz für die menschliche Realität, die auch aus Körperlichkeit besteht.

Die Corona-Krise ist für den einzelnen Menschen nicht zu lösen. Was raten Sie? 

AB: Es kommt darauf an, was wir unter einer Lösung verstehen. Wenn der Lebenspartner stirbt, man mit einer chronischen Erkrankung leben muss, den Arbeitsplatz verliert oder man eigene wichtige Ideale nicht leben kann, gibt es keine Lösung im eigentlichen Sinn. Hier geht es um eine angemessene Trauerarbeit und um Akzeptanz, übrigens ein weiterer Resilienz-Faktor. Es geht auch darum, in der Krise eine Balance zu finden zwischen gesunder Ablenkung, Aushalten, Reden und Verarbeiten. All das trägt zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der psychischen Stabilität bei. Optimisten, Menschen mit einem Grundvertrauen tun sie da etwas leichter. Sie können jeder Situation etwas Positives abgewinnen.

Das heißt, man könnte aus der Corona-Krise auch positive Erfahrungen ziehen? 

AB: Auf jeden Fall. Ich würde mir wünschen, dass wir diese Zeit des Rückzugs, der sozialen Isolation und Entschleunigung nutzen, um unser Leben und die bisher für selbstverständlich gehaltenen Entwicklungen in unserer Gesellschaft zu reflektieren, neue Werte und Prioritäten zu entdecken, den Mut auch Fehler zuzugeben und eine neue Ausrichtung zu wagen. Wir haben durch die Krise auch die Chance, über den Wert des Lebens und unseren Umgang mit Angst, Erkrankung und Tod zu reflektieren und das auf Grund eines unsichtbaren Virus. Wem es gelingt, durch Refraiming, also die Neu-Bewertung der Situation, eine andere Sicht auf die Situation zu gewinnen, kann die Krise als Chance nutzen.

Danke für das Interview, Frau Dr. Beraldi.

Von Kliniken des Bezirks Oberbayern 15. April 2020