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„Kinder haben viele Ressourcen“

Dr. med. Adelina Mannhart ist stellvertretende Ärztliche Direktorin und leitende Oberärztin am kbo-Heckscher-Klinikum München für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Ruth Alexander hat mit ihr über die Pandemie und ihre Folgen für die Klinik und deren Patienten gesprochen.

Seit der zweiten Welle der Pandemie ist die psychische Belastung von Kindern und Jugendlichen in aller Munde. Gehen wir zunächst einen Schritt zurück: Wie hat das kbo-Heckscher-Klinikum den ersten Lockdown im Frühjahr 2020 gemanagt?

Dr. Adelina Mannhart (AM): In dieser ersten Welle war schon etliches anders. Da wussten wir noch so gar nicht, was auf uns zukommt. Wir mussten uns organisatorisch neu aufstellen, vieles musste implementiert werden, die Mitarbeitenden sensibilisiert und geschult werden. Das war viel Arbeit. Wie viele andere Kliniken haben wir unsere Tagesklinikgruppen für einige Zeit geschlossen. In der Ambulanz haben wir vorübergehend die Zahl der einbestellten Patientinnen und Patienten deutlich runtergefahren und uns primär auf die Notfall-Ambulanz und sehr dringende Fälle beschränkt. Das war natürlich ein großer Einschnitt. Auch auf den offenen Stationen hatten wir die Belegung zeitweise reduziert, um die Abstandsregelungen beachten zu können und um einfach ein bisschen Luft zu haben für das, was da kommt. 

Und aus Patientensicht?

AM: Ein großer Unterschied ist sicher – und das betrifft nicht nur die Patienten, sondern uns alle –, dass man damals dachte, man hätte nur ein paar Monate vor sich. Das wirkte überschaubarer. Anfangs bestand eine große Zurückhaltung, überhaupt zum Arzt zu gehen. In der Zwischenzeit hat sich das weitgehend normalisiert, es werden viele Kinder und Jugendliche zur Diagnostik und Behandlung angemeldet, wir sehen aktuell einen großen Bedarf. In der dritten Welle hat man den Patientinnen und Patienten auch angemerkt, dass ihnen so ein bisschen die Luft ausgeht. Sie haben keine richtige Perspektive, es zieht sich alles. Die Folgen sind gerade für Kinder und Jugendliche gravierend. Dieser Wegfall des normalen Lebens seit weit über einem Jahr hat schon erhebliche Auswirkungen.

Für die Fortsetzung der Copsy-Studie der Uniklinik Hamburg-Eppendorf wurden Anfang 2021 über 1.000 Kinder zwischen 11 und 17 Jahren befragt. Demnach leidet fast jedes dritte Kind unter psychischen Auffälligkeiten.

AM: Ja, das sind recht hohe Zahlen, die zeigten sich schon in der ersten Befragung im Frühsommer 2020 und in der von Ihnen angesprochenen zweiten Befragung Anfang 2021 sah man eine nochmalige Zunahme. Aber diese psychische Belastung, die sich bei den Kindern und Jugendlichen abbildet, ist nicht gleichzusetzen mit einer psychischen Störung. Diese kann sich daraus entwickeln, muss aber nicht. Die psychische Belastung kann mit Ängsten verbunden sein, vielleicht mit einer depressiven Verstimmung oder erhöhter Gereiztheit. Das sind ja auch normale Reaktionen auf eine belastende Situation, die nun mal da ist. Kinder haben aber viele Ressourcen, auch schwierige Zeiten zu überwinden. Ich denke, wenn wir wieder mehr zur Normalität zurückkehren, wird sich bei vielen Kindern diese Symptomatik wieder legen. Für uns in der Kinder- und Jugendpsychiatrie liegt der Fokus auf den Kindern und Jugendlichen, die durch die Pandemie und die damit verbundenen Belastungen besonders gefährdet sind. Das sind zum Beispiel Kinder und Jugendliche mit psychischen Vorerkrankungen, Kinder und Jugendliche, die schon vor der Pandemie in der Schule oder in der sozialen Integration Schwierigkeiten hatten oder Kinder, deren Familien aus verschiedenen Gründen besonders belastet sind.

Welche Patientinnen und Patienten  kommen zu Ihnen, welche Diagnosen stellen Sie vermehrt?

AM: Die per se hohe Inanspruchnahme der Notfallambulanz, der geschützten Stationen und der offenen Krisenstationen hat in den ersten Monaten dieses Jahres 2021 nochmal kontinuierlich zugenommen. Wir haben derzeit bis zu 140 Notfallambulanz-Fälle im Monat, mit steigender Tendenz und eine hohe Überbelegung auf den Akut- und Krisenstationen. Wir stellen bei vielen Patienten fest, dass sie unter der Pandemie-Situation leiden. Kinder und Jugendliche berichten uns, dass sie es nicht mehr packen, dass sie mit dem Home-Schooling nicht mehr klarkommen, ihre Freunde vermissen. Und dass – für unsere Patienten ganz entscheidend – stützende Strukturen durch die Jugendhilfe oder Betreuungen anderer Art, zum Beispiel für Kinder mit schweren Entwicklungsstörungen, wegfallen oder nur noch in sehr reduzierter Form da sind. Die Familien sind viel mehr auf sich gestellt. Wir behandeln viele Kinder mit depressiv-suizidalen Syndromen und mit Angst-Symptomatik. Wir haben den Eindruck, dass die Patienten etwas jünger sind als früher, dass sie zum Teil schwerer erkrankt sind und daher längere Zeit in der Klinik brauchen, um sich wieder zu stabilisieren. Wie gesagt: erschwert wird die Situation auch dadurch, dass draußen die Auffangstrukturen nicht in dem üblichen Maße greifen. Und was wir sehen – um da nochmal auf den Punkt Risiko-Kinder und -Jugendliche zurückzukommen: besonders gefährdet sind die Kinder, die schon vor Pandemie-Zeiten Schwierigkeiten hatten und bei denen sich diese belastende Situation quasi obendrauf setzt. Diese Fälle haben sich durch die Krise nochmal deutlich verschärft.

Welche Folgen hat das Home-Schooling für die Kinder und Jugendlichen?

AM: Das ist sicher schwierig für einen Teil unserer Patientinnen und Patienten beziehungsweise einen Teil der Kinder und Jugendlichen generell. Einige kommen gut damit zurecht, bekommen teils auch von der Schule gute Unterstützung. Auf der anderen Seite sieht man aber in den Studien die Tendenz, dass die Bildungsschere auseinandergeht. Es gibt viele Familien, in denen Eltern ihren Kindern nicht im notwendigen Maße helfen können, die zum Beispiel keinen hohen Bildungsgrad haben oder sprachlich nicht unterstützen können, die in beengten Wohnverhältnissen leben, zu wenig Geld haben. Eltern, die es sich zum Beispiel nicht leisten können, den Kindern PCs mit Internet-Anschluss hinzustellen. Diese Kinder rutschen aus dem Home-Schooling zunehmend raus und sind gefährdet, den schulischen Anschluss zu verpassen. Das ist eine gefährliche und bedenkliche Entwicklung.

Thema Masken und Kommunikation: Wie geht man an am kbo-Heckscher-Klinikum damit um?

AM: Unsere Patientinnen und Patienten sind regelmäßig getestet. Sie tragen im Regelfall auf den Stationen keine Masken, wir natürlich schon. Ich erlebe das als relativ unproblematisch. Es hängt viel davon ab, mit welchem Selbstverständnis wir damit umgehen. Viele Kinder und Jugendliche haben sich relativ schnell darauf eingestellt, haben auch kein Problem mit den Phasen, in denen sie selbst Masken tragen müssen, zum Beispiel nach der Aufnahme oder nach längeren Ausgängen. Es gibt aber auch Kinder – autistische oder Kinder mit schweren Entwicklungsrückständen – bei denen das schwieriger ist, wo wir versucht haben, Alternativen zu finden. Für den normalen Kontakt ist es ganz entscheidend, dass man selber mit einer gewissen Entspanntheit damit umgeht, um das Ganze nicht zu sehr als Problem aufzuladen. Im Moment ist es als Schutz gut und notwendig und dann ist es auch wichtig, das zu vertreten.

Sie sind die Corona-Beauftragte des kbo-Heckscher-Klinikums München. Welche Aufgaben haben Sie in dieser Funktion und wie haben die sich im Laufe des vergangenen Jahres verändert?

AM: Unsere Pandemie-Runde hier in der Klinik trifft sich regelmäßig. Es wird über nötige Maßnahmen diskutiert und überlegt, was umgesetzt oder verändert werden muss. Es gilt, unsere Regelungen den gesundheitspolitischen Vorgaben anzupassen und auf die einzelnen Standorte beziehungsweise Funktionsbereiche der Klinik runterzubrechen. Also: Regeln aufzustellen, die nach Möglichkeit transparent sind und für alle gleichermaßen umsetzbar.
Was immer wieder viel Zeit in Anspruch nimmt, ist der Umgang mit positiven Corona-Fällen – in erster Linie bei den Mitarbeitenden. Bisher gab es Gott sei Dank nur sehr wenige Fälle von positiv getesteten Kindern und Jugendlichen in der Klinik. Da hatten wir Glück und unsere Maßnahmen haben gegriffen. Jeder positiv getestete Fall hat ja zur Folge, dass man überlegen muss: wer ist mitbetroffen, wer sind die Kontaktpersonen, müssen die selbst in Quarantäne gehen, müssen Teilbereiche der Klinik geschlossen werden. Diese Entscheidungen und das jeweilige Abstimmen mit allen Beteiligten, auch mit den zuständigen Gesundheitsämtern, sind aufwändig. In unserer Klinik mussten wir bisher nur wenige Teilbereiche vorübergehend schließen. Die Patientinnen und Patienten wurden dann nach Hause entlassen für die Zeit der Quarantäne, ebenso das betroffene Personal. Inzwischen stellt sich die Situation etwas leichter dar, weil ja erfreulicherweise ein Teil der Belegschaft bereits geimpft ist.
Gerade im Notfallbereich bemühen wir uns um die Aufrechterhaltung der Versorgung. Mit allen Mitarbeitenden versuchen wir trotz phasenweiser Überbelegung das Bestmögliche, um Infektionen zu verhindern, um die Notfallbehandlung von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen in Oberbayern weiter im vollen Umfang vorhalten zu können.

Was war für Sie seit Ausbruch der Pandemie die am wenigsten erwartete Erkenntnis?

AM: Ich bin manchmal perplex, wie viele Leute mit einfachen Maßnahmen ein Problem haben, Masketragen zum Beispiel. Ganz simple Dinge, die zum Schutz für andere, für uns alle notwendig und einfach umzusetzen sind, werden teils dramatisiert. Das hätte ich in diesem Ausmaß nicht erwartet. In der Klinik gab es zum Glück nur Einzelfälle, zum Beispiel von Angehörigen, die sich gegen die Maßnahmen gesträubt haben. Aber unsere Mitarbeitenden stehen voll und ganz dahinter und setzen sich engagiert dafür ein, dass wir trotz dieser schwierigen Umstände das gut zusammen hinkriegen und dass wir auch alle gesund bleiben.

Was möchten Sie noch loswerden?

AM: Ich finde es sehr gut, dass das Thema Kinder und Corona und auch die Kinder- und Jugendpsychiatrie jetzt mehr öffentliche Aufmerksamkeit bekommt. Denn die Kinder leiden psychisch mit am meisten. Hier sollte von allen Beteiligten – also nicht nur von uns Psychiaterinnen und Psychiatern, sondern auch von der Jugendhilfe, den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten, Psychotherapeutinnen und -therapeuten, Lehrerinnen und Lehrern, von allen, die involviert sind – darauf geschaut werden, wie man die Situation für die Kinder und Jugendlichen stabilisieren und verbessern kann, trotz Pandemie. Das ist eine elementar wichtige Aufgabe für uns alle.

Frau Dr. Mannhart, vielen Dank für das Gespräch!
 

Von Ruth Alexander 11. Mai 2021