„Seelische Krisen kennen keine Uhrzeit“
0800 / 655 3000: Der Krisendienst Psychiatrie Oberbayern hat seine Hilfeangebote für Menschen in akuten seelischen Notlagen weiter verbessert. Seit Kurzem sind die mobilen aufsuchenden Krisenteams in Stadt und Landkreis München, Stadt und Landkreis Rosenheim sowie der Stadt Ingolstadt und den Landkreisen Eichstätt, Neuburg-Schrobenhausen und Pfaffenhofen an 365 Tagen rund um die Uhr – also auch nachts – verfügbar.
Claudia Nikel vom Sozialpsychiatrischen Dienst Rosenheim ist zusammen mit ihrer Kollegin Bianca Hackl tagsüber für die Koordination des Krisendienstes in der Stadt und den Landkreis Rosenheim verantwortlich. Im Gespräch berichtet sie über die mobile Krisenintervention.
Frau Nikel, die aufsuchende Krisenhilfe ist in Stadt und Landkreis Rosenheim rund um die Uhr verfügbar. Warum ist es wichtig, dass Sie auch nachts in Bereitschaft sind?
Claudia Nikel (CN): Psychische Krisen kennen keine Uhrzeit, sie richten sich nicht nach festgelegten Öffnungszeiten. Viele seelische Notlagen entstehen plötzlich oder eskalieren innerhalb weniger Stunden und dann ist es wichtig schnell und unkompliziert kompetente Unterstützung zu bekommen. Das kann in der Früh um 9:00 Uhr sein aber auch nachts um 0:00 Uhr. Die bisherigen Erfahrungen im Krisendienst haben gezeigt, dass das Wissen um die schnelle Verfügbarkeit von Hilfen eine enorme Beruhigung für die Betroffenen darstellt und bereits im Vorfeld deeskalierend wirken kann.
Welche Aufgaben haben die aufsuchenden Einsatzteams?
CN: Wir sind da und hören zu. Wir bringen die Zeit mit, um die Situation gemeinsam zu klären und zu überlegen, wie es weitergehen kann. Oft entwickeln Betroffene im Austausch mit dem Einsatzteam selbst erste Ideen und entwickeln Ansätze von Lösungen. Manchmal dient das Gespräch nur der Entlastung, manchmal werden weitere Unterstützungsmöglichkeiten vermittelt. Mitunter wird ein Termin bei einem niedergelassenen Arzt oder am Sozialpsychiatrischen Dienst vereinbart. In einigen Fällen wird der Krisendienst am nächsten Tag durch die sogenannte Nachsorge aktiv. Immer richtet sich das Angebot des Einsatzteams nach dem Bedürfnis des Betroffenen.
Wie sieht eine Krise aus, die Ihren Einsatz erforderlich macht?
CN: Es gibt immer wieder Einsätze, die mich nachhaltig berühren, weil sie gerade jetzt die Herausforderungen des Lebens mit Corona für uns alle deutlich machen: Es war ein Einsatz bei einer sechsköpfigen Familie – der Vater ist im gehobenen Management, die Mutter erzieht die vier Kinder tagsüber oft alleine. Homeschooling, Haushalt, Beschäftigung der Kinder, häusliche Freizeitaktivitäten, dazu die immer wiederkehrende berufliche Abwesenheit des Vaters – dies alles hat eine psychosoziale Krise bei der Mutter ausgelöst, die den Einsatz eines mobilen Krisenteams erforderlich gemacht hat. Aufgrund der Schwere der Niedergeschlagenheit und der Überforderung der Frau fasste sich das Paar ein Herz und wandte sich telefonisch an die Leistelle. Diese bot aufgrund der Not einen mobilen Einsatz vor Ort an, dem stimmte die Familie zu und unser Team war binnen einer Stunde am verabredeten Einsatzort.
Warum hat Sie dieser Einsatz so berührt?
CN: Was diesen Einsatz so besonders machte, war die spürbare Angst vor einer Stigmatisierung. Greifbar war die Sorge, nicht mehr zu funktionieren, die Gedanken, was nun andere denken könnten, wenn man auf diese Weise vermeintlich Schwäche zeigt. Aber genau dafür gibt es den Krisendienst: Wir helfen diskret und gezielt, ohne dass die Situation weiter eskaliert. Der Familie haben wir ein Hilfsangebot vermittelt – nach zwei Stunden war alles wieder einigermaßen im Lot. Die schnelle sozialpsychiatrische Hilfe hat gewirkt.
Gibt es einen typischen Ablauf einer Krise?
CN: Es gibt nicht den typischen Ablauf einer Krise, weil keine Krise der anderen gleicht. So wie wir Menschen unterschiedlich sind, so sind es auch Menschen in Krisensituationen, und das Einsatzteam muss dieser Vielschichtigkeit gerecht werden. Die meisten Kriseneinsätze in Rosenheim werden durch die Leitstelle veranlasst. Die Leitstelle klärt mit den Anrufenden durch spezifisches Hinterfragen den Sachverhalt und verständigt das Einsatzteam. Wir sind dann mit einem Team aus zwei Leuten in der Regel innerhalb einer Stunde vor Ort. Mit einem unauffälligen Auto, ohne Blaulicht, in Straßenkleidung und ohne großes Aufsehen. Der weitere Verlauf richtet sich nach dem Bedarf des Hilfesuchenden, und der Betroffene selbst entscheidet, welche Hilfen er annehmen kann und will.
Ausgangspunkt ist stets die Krisen-Nummer 0800 / 655 3000 …
CN: Exakt – und zwar rund um die Uhr. Sie wird in Oberbayern inzwischen jährlich 30.000 Mal kontaktiert und ist für seelische Krisen das Gegenstück für die Nummer 112 bei körperlichen Beschwerden. Jede psychosoziale oder psychiatrische Krise ist bei uns richtig. Anrufen kann der Betroffene selbst, ein Angehöriger oder eine andere dritte Person oder Institution.
Viele Menschen haben Angst vor einer Zwangseinweisung in die Psychiatrie. Wie begegnen Sie dem?
CN: Ich glaube, in den letzten Jahren wurden mit Hilfe des Krisendienstes viele Zwangseinweisungen verhindert. Wir wissen, dass jede Zwangseinweisung ein dramatisches Erlebnis, vor allem für den Betroffenen, aber auch für alle anderen Beteiligten darstellt. Deshalb setzen wir alles daran, dies zu verhindern und nach Alternativen zu suchen. Hilfreich ist diesbezüglich auch die sehr gute Zusammenarbeit mit den Behörden sowie der Polizei in der Stadt und im Landkreis Rosenheim. Die Polizei zieht den Krisendienst häufig zu laufenden Fällen hinzu – ebenfalls mit dem Ziel der Klärung und der Deeskalation. Das Einsatzteam kann dann vor Ort die Situation einschätzen und häufig Alternativen zu einer Einweisung anbieten.
Können Sie das an einem Beispiel erläutern?
CN: Die Polizei rief uns zu einer Situation hinzu, bei der es um die Abklärung einer Selbstgefährdung ging. Eine junge Frau hat sich am Vormittag mit suizidalen Äußerungen an eine Freundin gewendet. Diese verständigte aus Angst um das Leben ihrer Freundin die Polizei. Die Polizeibeamten waren sich nicht sicher, ob sie den Beteuerungen der Frau, dass sie sich nichts antut, trauen konnten oder ob eine Einweisung in die Psychiatrie sinnvoll wäre. Das Einsatzteam ist nach einem längeren Gespräch mit der Betroffenen zu einer positiven Einschätzung gekommen. Es wurde für den nächsten Tag ein Termin beim Sozialpsychiatrischen Dienst vereinbart, um eine weitere Begleitung sicher zu stellen und um eine erneute Zuspitzung zu vermeiden.
Hat die Corona-Pandemie Ihre Arbeit verändert? Wird der Krisendienst Psychiatrie mehr in Anspruch genommen werden?
CN: Durch die Pandemie ist es natürlich etwas schwieriger geworden, wir müssen bei den Einsätzen auf Abstand achten, und die Maske bewirkt, dass es ein wenig länger dauert, bis Menschen Vertrauen fassen können. Vieles geschieht ja nicht durch Worte, sondern durch Nähe, Mimik und Gestik. Durch die Pandemie kam es nicht zu mehr Einsätzen allerdings haben viele Krisen mit Corona zu tun. Bereits schwierige Situationen haben sich durch Corona noch verschärft. Viele ältere Menschen sind zunehmend isoliert und vereinsamt, es gibt kaum Möglichkeiten sich auszutauschen oder gar Gruppen zu besuchen. Dies alles kann zu seelischer Not führen und psychische Krisen auslösen.
Was raten Sie Betroffenen und deren Angehörigen in einer Krise?
CN: Nehmen Sie das wertvolle Angebot an und kontaktieren Sie uns, wenn Sie merken, Ihnen oder anderen geht es nicht gut! Keiner wird mit psychischen Problemen allein gelassen! Die 0800 / 655 3000 sollte deshalb genauso in den Köpfen präsent sein wie die 112.