„Praktische und konkrete Hilfe für Menschen in Not“
0800 / 655 3000 – erste Hilfe für die Seele: Die aufsuchende Krisenhilfe des Krisendienstes Psychiatrie Oberbayern ist ab dem 01. Juli 2021 in ganz Oberbayern für Menschen in akuten seelischen Notlagen rund um die Uhr im Einsatz. Richard Hörtlackner von der Gemeinnützigen Gesellschaft zur Förderung des Krisendienstes Psychiatrie Oberbayern (GKP) verantwortet in den Landkreisen Landsberg am Lech, Bad-Tölz-Wolfratshausen, Garmisch-Partenkirchen, Miesbach und Weilheim-Schongau mehrere Einsatzteams. Im Gespräch berichtet der Diplompsychologe über mobile Krisenintervention.
Herr Hörtlackner, die in Komm- und Geh-Struktur arbeitenden Einsatzteams sind im Südosten Oberbayerns ab 1. Juli rund um die Uhr verfügbar. Warum ist es wichtig, dass diese auch nachts in Bereitschaft sind?
Richard Hörtlackner (RH): Weil Krisen keine Uhrzeit kennen. Denken Sie nur an Familien- oder Paarkonflikte, Belastungsreaktionen, Suizidgedanken, Selbstverletzungsdruck, Angststörungen oder Panikattacken. Auch bei Selbstgefährdung, einem paranoiden Problemspektrum oder Verwirrtheit kann Hilfe in der Regel nicht bis zum nächsten Morgen warten. Psychosoziale und psychiatrische Krisen kommen oft unvermittelt und plötzlich. Manchmal erscheinen sie existenzbedrohend und ausweglos. Wenn akute Krisen gut begleitet sind, gibt es oft die Chance, dass keine chronische psychische Erkrankung entsteht und die Betroffenen zeitnah in ein geregeltes Leben zurück gelangen.
Welche Aufgaben haben die aufsuchenden Einsatzteams?
RH: Unsere Aufgabe ist es, die Situation vor Ort abzuklären und unnötige Krankenhausaufenthalte zu vermeiden. Wir kommen, um zu entlasten, wir hören zu und schauen, welche Ressourcen der betroffene Mensch hat. Nach Bedarf vermitteln wir Unterstützungsangebote in der ambulanten Umgebung. Natürlich kann es auch sein, dass wir in eine Situation kommen, wo unser multiprofessionelles, nicht ärztliches Krisenteam nicht weiterkommt. Für diesen Fall können wir – dank unserer Kooperationsverträge – ärztliche Hilfe zu Rate ziehen.
Wie sieht eine Krise aus, die Ihren Einsatz erforderlich macht?
RH: Menschen in extremen Situationen durch die Krise zu begleiten, bedeutet für mich an ihrer Seite zu stehen. Zuhören, fragen und stärken, Ressourcen benennen und diesen wieder Platz zu geben. Das erläutere ich gern an einem Einsatz, der mich sehr berührt hat: Eine 17-Jährige hatte weinend in der Leitstelle angerufen, weil sie keinen Ausweg mehr für sich sah. Sie sei in der 11. Klasse am Gymnasium und fühle sich vom Leistungsdruck, ein Einser-Abi zu schreiben, völlig überfordert. Aus Sicht der Eltern hätte sie ohne Einser-Abi im Leben schon verloren; ein Versagen würde nicht akzeptiert. Nun hätte sie seit einer Woche angefangen, sich selbst zu verletzen. Bei unserem Einsatz erschien die junge Frau blass und konnte keinen stabilen Augenkontakt halten. Im Gespräch konnten wir die Klientin spürbar entlasten. Sie konnte endlich mit jemandem reden, der nichts von ihr gefordert oder erwartet, sondern einfach nur zugehört hat. Durch aktives Zuhören konnte das Team schnell eine gute vertrauensvolle Gesprächsatmosphäre schaffen und Perspektiven für den Weg aus der Krise entwickeln.
Warum hat sie dieser Einsatz so berührt?
RH: Hier war unser professionelles Arbeiten in höchstem Maße gefragt. In der Pandemie habe ich erlebt, wie Kinder und Jugendlichen oft hinten runtergefallen sind. Die Erwachsenen verlangen, dass sie immer funktionieren. Der Krisendienst kann hier noch viel mehr unterstützen und aktiv werden. Familien, Kinder und Jugendliche haben im Krisendienst eine große, professionelle Ressource, die viel Leid und Schmerz mindern und Konflikte lösen kann. Das ist es, was uns im Krisendienst Psychiatrie ausmacht. Wir bieten praktische, konkrete Hilfe für Menschen in Not.
War dieser Ablauf typisch?
RH: Die meisten Einsätze sind gottseidank nicht so belastend, jedoch entscheidet die Leitstelle nur dann, ein Einsatzteam in Marsch zu setzen, wenn dringend eine Abklärung über Suizidalität oder eine dringende Entlastung der betroffenen Personen oder ihrer Familie angezeigt ist.
Ausgangspunkt ist stets die Krisendienst-Nummer?
RH: Genau – und zwar rund um die Uhr! Unter 0800 / 655 3000 sind wir kostenfrei zu jeder Tages- und Nachtzeit erreichbar. Die Nummer wird in Oberbayern jährlich rund 30.000 Mal kontaktiert und ist für seelische Krisen das Gegenstück für die Nummer 112 bei körperlichen Beschwerden. Jede psychosoziale oder psychiatrische Krise ist bei uns richtig. Anrufen kann der Betroffene selbst, ein Angehöriger oder eine andere dritte Person oder Institution.
Viele Menschen haben Angst vor einer Zwangseinweisung in die Psychiatrie. Wie begegnen Sie dem?
RH: Davor braucht man bei uns keine Angst haben. Ganz im Gegenteil! Wir kommen als Hilfe und Unterstützung für den Menschen in einer akuten Krise und nicht, um ihn zu übergehen oder in die Psychiatrie einzuweisen. Zwar ist es so, dass uns die Polizei, das Gesundheitsamt oder die Unterbringungsbehörde zu einem bereits laufenden Einsatz hinzuziehen können. Dies geschieht aber, weil auch die Polizei sich wünscht, dass wir deeskalieren. Denn niemandem ist geholfen, wenn ein Mensch gegen seinen Willen in eine Klinik eingewiesen wird. Die angeforderten Fachkräfte sind sehr häufig in der Lage, eine Alternative zu finden und geeignete Hilfen zu vermitteln. Und ganz ehrlich: Das ist der größte Wunsch aller Anwesenden.
Können Sie das an einem Beispiel erläutern?
RH: Einsatzkräfte der Polizei hatten uns zu einem Krisenfall hinzugezogen. Ein Mensch in einer akuten Krise war nicht zugänglich, wurde immer aggressiver und handgreiflich und erlebte die zwei Polizisten aus seiner Perspektive als zusätzliche Bedrohung. Die Polizei bat daraufhin die Leistelle um Unterstützung, die ein Einsatzteam schickte. Das Krisenteam konnte deeskalieren. Es wurde einvernehmlich eine gute Lösung gefunden. Dabei waren sich die Polizisten ihrer Rolle bewusst. Sie brachten viel Verständnis für die Lebenssituation mit und hatten zeitnah den Krisendienst angefordert. So sollte es laufen.
Hat die Corona-Pandemie Ihre Arbeit verändert?
RH: Unsere Fachlichkeit und professionelle Arbeitsweise sind unverändert. Jedoch fehlt unter den Kolleginnen und Kollegen der persönliche Austausch, unsere Teammeetings können zwar auch gut digital durchgeführt werden. Sie können aber nie den Menschen in Person ersetzen, da fehlt einfach immer was. Die sehr wichtige kollegiale Beratung findet zwar auf der kognitiven Ebene statt, die spürbare Emotion kommt leider nur zu einem sehr kleinen Teil digital rüber. Corona kann zur Auslösung von Krisen beitragen. Corona macht das Angebot des Krisendienstes deshalb nur umso wichtiger. Es ist niemand dagegen gefeit, selbst eine schwere psychosoziale oder psychiatrische Krise zu erleben.
Wird der Krisendienst Psychiatrie mehr in Anspruch genommen werden?
RH: Laut Statistik gibt es in der Leitstelle einen deutlichen Anstieg an Anrufenden. Es gibt jedoch sicher im Bereich der Kinder und Jugendlichen, die ich als Hauptleidtragende dieser Pandemie sehe, noch einen hohen Bedarf, sich Hilfe zu holen: Hier muss noch insbesondere auf dem Land viel Öffentlichkeitsarbeit geleistet werden.
Was raten Sie Betroffenen und deren Angehörigen in einer Krise?
RH: Nehmen Sie das wertvolle Angebot der Krisenhilfe an und kontaktieren Sie uns, wenn Sie merken, Ihnen oder anderen Personen geht es nicht gut! Kein Mensch wird mit psychischen Problemen allein gelassen! Die 0800 / 655 3000 muss deshalb genauso in den Köpfen präsent sein wie die 112.